Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, was Ophelia macht sobald Hamlet nicht da ist? Zwar spielt sie in Shakespeares Stück eine prägnante Rolle, doch tritt selten auf, darf kaum sprechen und etabliert sich deswegen zu einer ikonographischen Frauenfigur aus Trauer, Leid, Tod. Diese Darstellung wird bis heute in Inszenierungen gefestigt. Anders in „Noli me tangere“ von Ornella Tespidi und Charlotte Zeidler: Sie positionieren die bisherige Randfigur präsent im Scheinwerferlicht, verpassen ihr damit einen Befreiungsschlag und dem Publikum einen Denkzettel.
Das Scheinwerferlicht blendet. Vermutlich eine Sache der Gewöhnung, denn immerhin werden veraltete Narrative ins Licht gerückt und hoffentlich dermaßen erhitzt, dass sie für immer verbrennen. Tespidi und Zeidler treten ins Gegenlicht, mit dem Rücken zum Publikum, sichtbar nur Konturen. Sie sind nicht Ophelia, imaginieren sie nur. Vielmehr sind sie zwei weibliche Körper, denen das ophel´sche Erbe der weiblichen Unterdrückung vererbt wurde. Anders als Ophelia stehen sie nicht mehr am Rand der Bühne, befreit sind sie dennoch nicht. Aber: Sie sind zu zweit. Es folgt die Choreographie der Befreiung, doch scheinen eben beide an unterschiedlichen Punkten des Prozesses zu sein: Während Tespidi am Platz fixiert den disziplinären Zwängen des Balletts folgt, wirbeln Zeidlers Körper und offenen Haare durch den Raum. Sie trägt eine schwarze Anzugshose, ihre Brüste als Symbol der Freiheit entblößt. Das passende Jacket zur Hose trägt Tespidi, eingeschränkt wie in einem Korsett. Sie teilen sich nicht nur das Kostüm, sondern eben auch das Leid der Figur.
Ein Monolog von Tespidi auf italienisch gehalten, gibt den Rhythmus der Bewegung von Zeidler vor, die das Gesagte körperlich teilweise übersetzt, sich teilweise auch widersetzt. Das Oberteil des Anzugs, der strenge Ton, das weiterhin abgewendete Gesicht und die Härte in ihren ballettösen Bewegungen erzeugen eine Machtposition gegenüber Zeidler, die trügt: Ihre Worte sind sanft und beinhalten Sehnsüchte frei sprechen zu dürfen. In „Hamlet“ selbst zeigt sich allein am Sprechanteil von Ophelia die Unmündigkeit der Frau. Im Gegensatz zu der männlichen Hauptrolle, die 11.000 Wörter sprechen darf, sind es bei Ophelia gerade einmal 1.000. Ein Spiegelbild dessen, dass in der damaligen Gesellschaft die Frau zu schweigen hatte. Umso spannender die Titelwahl „Noli me tangere“ (itl.: Rühre mich nicht an) des Stücks. Bezeichnete der Spruch früher eine gewünschte Geisteshaltung der Prüderie, um Frauen den Mund zu verbieten, ist der Satz heutzutage – gerade nach der #metoo-Debatte – als selbstermächtigenden Akt des Schutzes seines eigenen Körpers gegenüber zu verstehen.
Nach und nach werden die beiden Körper sichtbarer, doch ihre Augen werden von jeweils zwei Sonnenblumen ersetzt, die sie sich vors Gesicht halten. Einem Fernglas gleich, schauen die beiden in eine blumigere Zukunft, eine mit Wachstum. Tespidis befreit sich mit kleineren Sprüngen aus ihrer Enge bis ihr Körper wie vom Sonnenblumenöl entgiftet sich endgültig disziplinierten Bewegungen entsagt. Zeidler beobachtet den Befreiungstanz, lässt ihn dadurch real werden. Ophelia ist lediglich eine literarische Rolle, doch die bestehende Unterdrückung von FLINTA*-Personen ist real. Die geführten Interviews mit Frauen* innerhalb des Probenprozesses bestätigen es. Berechtigter Weise kommt oftmals die Frage danach auf, weshalb alte Stoffe noch aufgegriffen werden sollten. Eine potenzielle Antwort bietet das Abschlussbild: Zeidler nimmt ihre noch entkräftete Kollegin liebevoll in den Arm und lässt daran erinnern, dass scheinbar vergangene Strukturen weiterhin auf Körper einwirken und gegenseitige Fürsorge benötigen.